April 16, 2016

Polemik eines Weltherzens

Dies wird keine differenzierte Abhandlung über (rechtliche) Auswirkungen, ausgewogene Präsentation der Ansichten oder politischen Lage, „Sachzwänge“ und Alternativenabwägung. Ich möchte aus diesem Text keine soziologische Abhandlung machen, es ist einfach Meinung, Betroffenheit und mein Weltherz, welches aus diesen Zeilen spricht.

Wissen wir noch, wie es vor 8 Jahren war? Als eine Finanzkrise die größten Wirtschaftsnationen insbesondere, aber - aufgrund komplexer globaler Verflechtungen – auf die eine oder andere Weise jedes Land, jeden Wirtschaftssektor und jedes Individuum betraf? Manche haben damals auf die Konstruktion, die abstrakte Sphäre, in der sich der globale Finanzmarkt in den vorangegangenen Jahren eine Blase gebastelt hat hingewiesen, die notwendigerweise irgendwann platzen musste. 2008 war es dann soweit und die Konsequenzen waren für manche unmittelbar, für manche indirekt zu spüren. Betriebe gingen Pleite, Menschen verloren ihren Arbeitsplatz und es wurden mit Verweis auf Zwang zur Wirtschaftlichkeit oder DIE Krise strukturelle Umgestaltungen durchgesetzt. In großen Unternehmen, kleinen Betrieben wie auch auf staatlicher Ebene waren dies die geforderten (und somit geförderten) Maximen. Zwar regte sich hie und da Widerstand, aber wo setzte sich das schon durch? In Retrospektive konnten die meisten Einforderungen gegen diese Linie ihre - teilweise hoch gesteckten – Ziele nicht erreichen.

Damals war alles Wirtschaft, nichts kam daran vorbei oder war dem übergeordnet; das Nationalrecht nicht, die sozialen Bedingungen nicht, die Gesellschaft und die Menschen nicht.

Wissen wir, wie es heute ist? Menschen fliehen heute. Aus verschiedensten Gründen suchen sie ein sicheres Land in dem sie leben können. Vom Nahen Osten aus Syrien (Umwege aus Jordanien, Libanon, Türkei), Afghanistan und dem Irak versuchen im Moment Menschen in sichere Länder zu kommen. Weil sie dort etwas erwarten, was sie sich in Ländern aus denen sich fliehen, nicht mehr vorstellen können: Ein gutes Leben. Sei es ob sie Sozialleistungen, eine Arbeitsstelle oder Ausbildung (für ihre Kinder) wollen. Unter den Flüchtenden sind solche die zur Gemeinschaft beitragen wollen und solche die es nicht wollen, wie in jeder Gemeinschaft eben. Schmarotzertum kennt nun mal keine kulturellen Grenzen. Aber leben wollen sie, dafür riskieren sie sogar den Tod, selbst den ihrer Kinder.

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Jaison deCaires Taylor Unterwasser Museum: The Raft of Lampedusa, Lanzarote, Spanien.

Flucht ist dominantes Thema in den Medien und auf dem Stammtisch – alles Politik. Es ist DIE Krise heute. Aus europäischer Sicht ist es die Krise Europas: Polen, Ungarn, Frankreich, Dänemark, Großbritannien – sie alle tun sich mit unterschiedlich fragwürdigen rechtlichen Bestimmungen hervor. Etwas weiter betrachtet betrifft es sehr viel massiver den Nahen Osten, Nordafrika und Teile Asiens, aber auch die Amerikas können sich nicht ganz diesem Weltgeschehen entziehen – wenn auch in anderer Form davon betroffen. Verwoben in alle Bereiche des öffentlichen Lebens und diskutiert in verschiedensten Formaten ist das Thema dieser Krise auch im Hintergrund des derzeitigen Aufregers, dass der türkische Staatschef derzeit Klage gegen Satire in Deutschland einreichen will[1]. Diese Fluchtbewegung betrifft weiters auch nicht nur die unmittelbaren Nachbarländer, Deutschland oder die Europäische Union. Das Thema Flucht ist global verwoben in Politik, Gesellschaft, Staaten und alles dazwischen. Die Länder in sich und untereinander sind gesamtgesellschaftlich mit diesem Thema beschäftigt, auch in einem noch so kleines Land wie Österreich ist das der Fall.

Brenner-Autobahn_mit_der_Europabrücke_bei_Patsch
Brennerpass, Ralf Pfeifer [15.04.2016]

Was in Österreich politisch gerade diskutiert wird geht mir nicht nahe, weil es „mein Land“ ist. Es geht mir nahe, weil es verstörend für mein Weltherz ist. Von der leitenden Rolle in der sich Österreich beim Schließen der Balkanroute im Februar 2016 hervortun wollte bis hin zur aktuell weiter vorangetriebenen Schließung oder „Maßnahmen“[2] österreichischer Grenzen[3]. Zur Debatte steht aber noch mehr als der Umgang mit einer Grenze zu einem Nachbarland, das ebenfalls in der EU ist: Eine Asylnovelle[4] sieht "Sonderbestimmung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit" vor. Neben einer starken Beschränkung der Zahl neuer Asylanträge sieht es vor „[a]uf deren [i.e. Sonderbestimmung] Grundlage soll es, wie berichtet, Regierung und Nationalrats-Hauptausschuss unter Hinweis auf Gefahren für das Funktionieren des Asylwesens und anderer staatlicher Systeme in Österreich möglich sein, eine Verordnung zu beschließen.“[5]. Innenpolitisch, selbst Regierungs-intern ist die „Notfallsverordnung“ heiß diskutiert. Doch damit nicht genug, im Kontext dieses gesetzlichen Vorstoßes formieren sich Bürgerwehren in Österreich, Privatwaffen werden vermehrt gekauft und ein Gefühl der Unsicherheit verbreitet sich. Dazu und zur Asylnovelle im Gespräch mit dem neuem, österreichischen Verteidigungsminister Doskozil:

„Die Regierung übernimmt Verantwortung für dieses Land. […] Deshalb führen wir verstärkt Einreisekontrollen entlang der Migrationsrouten ein, wollen das Asylrecht novellieren, und zwar auf Basis der Empfehlungen von zwei Rechtsgutachten. Diese Maßnahmen sind notwendig, weil es keine europäische Lösung gibt und der Schutz der EU-Außengrenze und die Verteilung in Europa nach wie vor nicht funktionieren.“  Und weiter: „[…] Wenn hunderttausende Flüchtlinge nach Österreich kommen und wir diese Menschen nicht integrieren können, wir für diese Menschen keine Jobs und keine Wohnungen haben, dann schaffen wir bewusst Armut und Elend. Das wäre ein Strache[6]-Förderungsprogramm. Dann kann man ihm jetzt schon den Schlüssel für das Kanzleramt in die Hand drücken. Es geht darum, der Realität ins Auge zu blicken und verantwortungsvoll zu handeln. Als Sozialdemokrat und Humanist will ich, dass unsere staatlichen Systeme, dazu zählen auch die Sozialsysteme, funktionieren und dass alle, die ein Anrecht auf Asyl haben, auch integrierbar sind und von der Gesellschaft aufgenommen werden können.“[7]

Noch ist über diese Gesetzesnovelle nicht entschieden, und sie wird heftig kritisiert. Doch das Signal ist jetzt schon in die Debatte um Flucht eingedrungen, ob es zur Umsetzung der Novelle kommt oder nicht. Es wird darüber gesprochen, dass Geflüchtete mit Sicherheitsproblemen zu tun haben, dass sie ein Sicherheitsproblem sind, mit dem der (starke) Staat umgehen muss. Mag dies in einigen Kreisen der Gesellschaft schon als erwiesen gelten, ist es nun von Regierungsmitgliedern bestätigt und öffentlich getragen. Die neu vorgeschlagene Regelung wird auf eine Art dargestellt, die Sachzwang vermittelt, dem man sich nun mal fügen müsse; ähnlich dem Wirtschaftlichkeitsprimat während und nach der Finanzkrise 2008.

Aber gibt es denn zur Ausweitung einer Sicherheit-vermittelnden Exekutive wirklich keine Alternative? Was passiert, wenn zwar ein Notstands-Paragraph nicht eingeführt wird – ich wäre fassungslos, wenn dem so wäre - man damit aber die Tür für weitere Diskussion um „Notmaßnahmen“ öffnet? Muss man nicht über die Konsequenzen einer solchen Debatten- und Rechtsöffnung nachdenken? Oder besser: Zurückdenken?

Wissen wir, wie es damals war? Ja, ja, jetzt kommt der Vergleich mit der NS-Zeit. Weil er erschreckend gut passt, muss es nicht einmal lange ausgeführt sein, denn Verordnungen sind DAS Kennzeichen der ehemaligen faschistischen Regierungen Europas. Mit diesen Mitteln konnte Schritt für Schritt nicht nur Kritik, sondern der Rechtsstaat und das sichere Zusammenleben (dass es ursprünglich galt zu schützen) ausgehebelt werden.  Die Asylnovelle ist nicht ganz aus dem selben Holz wie persönliche Verordnungen durch ein Staatsoberhaupt (ein weiteres zentrales Merkmal faschistischer Regierungen) geschnitzt, aber sie ist zumindest dem Prinzip der absoluten Notwendigkeit ähnlich. Dieser Notwendigkeit zu handeln, einer höheren Macht der Dinge oder Sachlage zugesprochen, zwinge eine Regierung zu scharfen Maßnahmen - zum Schutz oder Wohle der eigenen Gesellschaft. Diese Sprache und diese Schlüsse sind, manifest und latent, in der Sonderbestimmung der Asylnovelle, sowie in der Debatte um flüchtende Menschen in Österreich heute zu finden. Menschen aus der Regierung, Politik, Medien, öffentlichem Leben und Stammtisch geben mit Verweis auf diesen „Zwang“ scheinbar Verantwortung für ihr Handeln an eben diesen ab. Die Alternativlosigkeit wird angerufen, um Störungen des ausgewählten Vorgehens zu unterdrücken. Solche Störungen sind schon das bloße Kritisieren dieses Vorgehens und das Anprangern dieses scheinbaren "Zwangs".

Diesen Schlüssen einer Alternativlosigkeit, diesem „Zwang“ stelle ich mich entschieden entgegen ohne einen Gegenvorschlag hier vorweisen zu können. Mir genügt meine Stimme dagegen zu erheben, damit der Verweis auf diese Alternativlosigkeit nicht allumfassend akzeptiert wird.  Wir müssen keine „Grenzmaßnahmen“ verschärfen. Wir müssen keine „Sonderbestimmungen“ einführen. Wir müssen Menschen nicht noch schärfer aufteilen. Wir müssen keine Angst um unsere Sicherheit haben, weil Menschen in unser Land flüchten. (Geflüchtete) Muslime sind muslimisch-gläubige Menschen.

Terroristen jeglicher Ideologie sind Terroristen.

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Ich fürchte mich nicht vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten. (Theodor Adorno)

[1] Um nur einen der zahlreichen Berichte dazu anzuführen: NZZ online (12.04.2016): Nach Schmähgedicht gegen Erdogan. Jan Böhmermann steht unter Polizeischutz. http://www.nzz.ch/international/deutschland-und-oesterreich/ankaras-forderung-nach-strafverfolgung-merkel-betont-die-freiheit-der-kunst-ld.13305 [15.04.2016]

[2] Österreichischer Bundespräsident Heinz Fischer dazu: „Angesichts des Mangels eines "effizienten Schutzes der europäischen Außengrenzen" sei Österreich aber gezwungen, zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen, um die Einreise einer unbegrenzten Zahl von Personen aus nicht-europäischen Ländern zu verhindern, deren Identität unbekannt sei. Verdächtige, die illegal oder ohne die notwendigen Dokumente ins Land einreisen wollen, könnten damit identifiziert werden. Der freie Personen- und Warenverkehr bleibe aber garantiert.“ Der Standard online (15.04.2016): EU-Kommissar plant offiziellen Brief an Österreich in Sachen Brenner. http://derstandard.at/2000034934830/EU-Kommissar-plant-offiziellen-Brief-an-Oesterreich-in-Sachen-Brenner [15.04.2016]

[3] Zeit Online (13.04.2016): "Europa wird am Brenner begraben" http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-04/brenner-zaun-oesterreich-italien [15.04.2016].

[4] Eine klare Zusammenfassung der vorgesehenen Änderung insbesondere im Verfahren der Abänderung zur Sonderbestimmung: Der Standard online (13.04.2016) Asylnovelle: Große Befürchtungen, harte Einschnitte. http://derstandard.at/2000034729591/Asylnovelle-Grosse-Befuerchtungen-harte-Einschnitte?ref=rec [15.04.2016].

[5] Der Standard online (14.04.2016): Asylnovelle weiter verschärft: Längere Haft vor Rückschiebung. http://derstandard.at/2000034886266/Asylnovelle-weiter-verschaerft-Vor-Rueckschiebung-laengere-Haft [15.04.2016].

[6] Parteiobmann der rechts-außen Partei FPÖ in Österreich.

[7] Der Standard online (14.04.2016): Asylnovelle: Doskozil weist SP-interne Kritiker scharf zurecht. http://derstandard.at/2000034864294/Asyl-Doskozil-weist-SP-interne-Kritiker-scharf-zurecht [15.04.2016]