March 10, 2016

Politikum Schweiz - Ein Basler Schauplatz

Politikum Schweiz - Ein Basler Schauplatz

In der Schweiz wird abgestimmt. Oft. Direkte Demokratie ist hier das Ja oder Nein zu verschiedensten Themen, die mittels Initiativen eingebracht werden können - auf Bundes-, Kanton- oder Gemeindeebene. Übrigens braucht es für so eine Volksinitiative auf Bundesebene (oder Eidgenossenschaft) gerade mal 100.000 Unterschriften, damit darüber abgestimmt werden muss. Das waren 2015 rund 1,9 % der Stimmberechtigten Schweizer_innen1.

So kam es auch am 28.02.2016 zu einer der wohlbekannten Schweizer Abstimmungen. Über unterschiedlichste Themen wurde auf Bundesebene abgestimmt. Es waren Initiativen

a) zur Abschaffung der Heiratsstrafe. Einer Steuerlast für Verheiratete, die abgeschafft werden sollte, deren Wortlaut allerdings Ehe als “zwischen Mann und Frau” definiert hat.

b) Bau einer 2. Röhre am Gottharditunnel. Ein umstrittenes Großprojekt, da mehr Individualverkehr und hohe Kosten erwartet werden.

c) Initiative gegen Nahrungsmittelspekulationen. Ein Verbot für den Handel mit Lebensmitteln an der Börse.

d) Durchsetzungsinitiative. Eine Verschärfung der Ausschaffungsinitiative 2014, die vorsieht straffällig gewordene Nicht-Schweizer_innen umgehend des Landes zu verweisen.2

Letztere wurde nicht nur innerhalb der Schweiz hitzig diskutiert. Das Vorhaben zur Ausweisung straffällig gewordenener Nicht-Schweizer_innen mittels der „Ausschaffungsinitiative“ ist 2010 angenommen worden. Allerdings erst 2015 in gesetzesform vorbereitet. Es soll nun im Herbst 2016 umgesetzt werden3. Der bisherige Umsetzungsvorschlag ging jedoch für das politische Rechts-Außen der Schweiz nicht weit genug. Die von der SVP initiierte „Durchsetzungsinitiative“ sah vor, dass auch rückwirkend, selbst bei kleineren Delikten automatisch – ohne richterliche Anhörung oder Rechtsspruch – Personen aus der Schweiz gebracht werden. Die Formulierung der Initiative war heftig umstritten, zumal sie auch zuließ dass „Seconodis“, das sind Personen aus 2. Generation einer Migrationsfamilie, also Menschen, die bereits in der Schweiz geboren sind, auf diese Weise des Landes verwiesen werden können.

Die Ergebnisse vom Sonntag sind bekannt: Durchsetzung klares Nein, Heiratsstrafe knappes Nein, Gotthardi-Röhre (überraschend) eindeutiges Ja, Lebensmittelspekulation eindeutiges Nein (also darf weiter an der Börse gehandelt werden)4.

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Erleichterung schien durch meine Kolleg_innen hier zu gehen. Sie hatten tatsächlich damit gerechnet einem Ja zur Durchsetzungsinitiative entgegen zu sehen. Das war schwer nachzuvollziehen. Als nicht-Schweizerin war es für mich eindeutig, dass so eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit nicht passieren kann. Doch Initiativen dieser Art müssen sehr genau in ihrem Wortlaut umgesetzt werden, so dass sich bei geringer Wahlbeteiligung und Mobilisierung bestimmter Gruppen radikale Ansichten legitimiert durchsetzten. Dies war der Fall 2010 bei der Ausschaffungsinitiative (Beteiligung 52,9 %)5 und 2014 bei der Masseneinwanderungsinitiative (Beteiligung 56,6 %). Letztere sah strengere Regelungen in Bezug auf Arbeitsplätze auch von EU-Bürger_innen vor. Daraufhin wurden seitens der EU bilaterale Verträge zwischen der Schweiz und Europäischer Union aufgekündigt.

Steinbock

Doch 2016 geschah das nicht. Bei der höchsten Stimmbeteiligung seit der Ablehnung des EWR Vertrages 1992 lehnten die Schweizer_innen eine Verschärfung der Ausschaffungen ab (Beteiligung 63,1 %)6. Die Zeitungen berichteten von einer Mobilisierung der Zivilgesellschaft und einem politischem Erwachen besonders junger Stimmberechtigter, die in sozialen Medien heiß über die Initiative diskutieren und zum Wahlgang aufriefen.

Und dann kam der Donnerstag danach in Basel. Seit Sonntag, 07.02.2016 sind in der Matthäus Kirche der Stadt Asylwerbende untergekommen7. Sie protestieren damit gegen die aktuelle schweizerische wie europäische Asylpolitik des Dublin-Verfahrens. Einige dieser Personen haben einen negativen Asylbescheid erhalten. Unterstützt von lokalen Aktivist_innen veranstalteten sie gemeinsame Essen, Diskussions- und Filmabende. Ihr Programmheft in meinen Händen weist auf Veranstaltungen zwischen 21.02. und 05.03. hin.

Am Donnerstagmorgen wurden bei einer Personenkontrolle 8 Personen in und vor der Matthäus Kirche verhaftet, weil sie keine gültigen Aufenthaltspapiere vorweisen konnten. Die Reaktion in Form einer spontanen (also nicht gemeldeten Demonstration) kam noch am selben Abend. Ein Demonstrationszug ging durch die Stadt, skandierend, trommelnd. Bis zu den Brücken, die Kleinbasel (traditionell der Stadtteil der einfachen Leute) mit Großbasel (Altstadt und traditionell der Stadtteil der Reicheren) verbinden. Dort wurde der Zug von Polizisten empfangen, die Warnungen zur Auflösung der Demonstration riefen. Ungehört oder unbeeindruckt standen die Demonstrierenden dem Aufgebot von etwa 20 Uniformierten gegenüber. Selbst dann noch als Gummigeschosse in die Menschenmenge abgefeuert wurden.

Details und Videoquelle hier.

Im Demonstrationszug wurden auf den Wegen Hauswände besprayt und Plakate geklebt. Solche Zeugen aktiver, linker Meinungsäußerung fand ich auch davor schon bei meinen Rundgängen in Basel.

Was passiert hier in der Zivilgesellschaft? Basel-Stadt gilt als linkes Pflaster, erzählt man mir. So wundert es kaum, dass man in den Straßen immer wieder Anzeichen einer linken Kultur findet. Aber ist Basel wirklich ein besonders Feld oder ist es vielmehr das Thema und die aktuelle Lage an sich, die die Gemüter hoch kochen lässt?

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Wird uns auf einmal klar vor Augen geführt, dass wir alle Politik sind? Nicht nur die Stimmen, die wir an Wahltagen abgeben, sondern jedes Mal wenn wir einer bestimmten Ordnung der Dinge gehorchen oder aber genau diese Ordnung der Dinge hinterfragen, wenn wir uns aus moralischen Gründen dazu aufgefordert fühlen stehen zu bleiben und nicht zu weichen.


1 Statistik Schweiz online  [Stand 28.02.2016].

2 Nähere Infos zu den Wortlauten der Initiativen: Schweizer Bundesrat online  [Stand 04.03.2016].

3 Neue Züricher Zeitung (04.03.2016). Umsetzungsgesetz gilt ab Herbst. Online. [Stand 05.03.2016].

4 Schweizerische Bundeskanzlei online [Stand 04.03.2016].

5 2010 wurde bereits über dieses Anliegen abgestimmt, allerdings beschloss das Bundesgericht nach der positiven Abstimmung, dass die Verfassungsbestimmung der Initiative nicht umgesetzt werden kann und vom Parlament konkretisiert werden müsse. In Folge kam es erst zu 2015 zu einer Anpassung des Strafgesetzbuches und des Militärgesetzes vor Ablauf des Referendum am 09.07.2015.

6 Statistik Schweiz online [Stand 04.03.2016]. Beteiligungsangaben aus den jeweiligen Volksinitiativen entnommen.

7 Seit 09.03.2015 ist auch die reformierte Kirche in Lausanne von abgewiesenen Asylwerbenden besetzt. Seit über einem Jahr kommen die Geflüchteten dort online [Stand 04.03.2016].